365 Tage Kanada

4 Großstädte und 6 unterschiedliche Provinzen.
2 Monate Herbst
🍃, 7 Monate Winter und 3 Monate Sommer .
Ein unvergessliches Jahr mit wundervollen Erinnerungen!

Mit meiner Rückreise nach Deutschland am 29. August 2017 endete offiziell mein Freiwilligendienst in der L’Arche Antigonish. Nach einem Jahr bin ich wieder daheim in meiner Heimat Würzburg, wo ich seit genau einer Woche zurück bin bei meiner Familie und meinen Freunden, meinem blauen Bett und meinem gut gefüllten Kleiderschrank. Zurück zu meinen alten (typisch deutschen) Essgewohnheiten und meinen lokalen Supermärkten, meinem Sportzentrum und Lieblingsfahrradrouten. Nach einem Jahr bin ich wieder hier und erkenne erleichtert, wie wenig sich eigentlich verändert hat! Diese Konstanten scheinen jedoch gleichzeitig einen so großen Gegensatz zu meiner Entwicklung zu bilden. Oder habe ich mich letztendlich überhaupt nicht groß verändert während meinem Auslandsjahr?

 

In meinem Freiwilligendienst hat besonders mein Umfeld einen großen, positiven Einfluss auf mich genommen. Die Personen, mit denen ich zusammen arbeiten und leben durfte, waren bis zum Rand gefüllt mit Zufriedenheit, Dankbarkeit und Selbstakzeptanz, die sich, lebt man 24/7 miteinander, nur auf mich abfärben konnte. Diese schönen Eigenschaften nahmen wiederum einen entscheidenden Einfluss auf meinen Arbeitsalltag und meine Lebenseinstellung im Allgemeinen. Oftmals hatte ich das Gefühl, dass meine Freunde mit Behinderung nicht mich brauchten, sondern ich sie. Meistens waren sie die Lehrer und ich der Schüler. In vielen mir unangenehmen oder unbekannten Situationen orientierte ich mich an ihnen, fand dabei Rückhalt und Bestätigung und wuchs dadurch über mich hinaus.

 

Wenn meine Entwicklung also besonders von meinem Umfeld beeinflusst wurde, kann ich meine positive Lebenseinstellung auch ohne Input meiner Freunde mit Behinderung aufrechterhalten? Dies war eine Frage, die ich mir zum Ende meines Freiwilligendienstes hin häufig gestellt habe und die mir das Zurückkommen nicht ganz so leicht machte. Mir war jedoch auch klar, dass mir diese Frage logischerweise nicht in Kanada eine Antwort schenken wird, sondern dass sie zu den Erfahrungen gehört, die ich in nach meiner Rückreise machen werde. Denn mein Freiwilligendienst ist zwar offiziell beendet, die Dinge, die ich daraus mitnehme, gehören jedoch zu einem lebenslangen Lernprozess. Zurück also zu der Frage, ob ich mich während meines Auslandsjahres überhaupt verändert habe? Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass ich mich verändert habe! Aber ich glaube auch, dass meine Erfahrungen noch lange nicht abgeschlossen sind!

Auch auf der Fahrt zurück vom Flughafen scheint alles wieder wie immer – wie VOR meinem Freiwilligendienst - zu sein. Klar, ich war ein Jahr weg und die Freude über unser Wiedersehen ist bei allen super groß, aber ich hätte auch aus einem zweiwöchigen Urlaub wieder kommen können - das Gefühl ist irgendwie das gleiche. Jetzt bin ich halt wieder da und sitze auf genau dem gleichen Sitz im Auto, wo ich sonst auch immer saß. Fülle den Platz auf der Rückbank neben meinen Schwestern somit wieder aus.

 

Zuhause angekommen fallen mir die kleinen, feinen Unterschiede jedoch deutlich auf. Die Badewanne scheint höher zu sein als je zuvor, die Türklinken lassen sich einfach nicht bis ganz nach unten drücken und die Lichtschalter sind viel zu tief angebracht! Beim Autofahren muss ich mich wieder mit der Kupplung herumschlagen und darf dann bei einer roten Ampel noch nicht mal mehr rechts abbiegen, wenn alles frei ist! Bei dem ersten Telefonat mit meiner Oma bemerkt diese, wie elegant hochdeutsch ich rede, während meine Schwester nur die Augen verdreht über die ganzen Anglizismen, die ich bei unseren Unterhaltungen ohne Absicht einstreue und meine Freundin lacht über meine Satzkonstruktionen. Meine Gedanken spielen sich einfach die meiste Zeit noch in Englisch ab und jedem Gespräch will ich ganz automatisch eine Höflichkeitsfloskel voranstellen! Es ist überraschend, wie schnell man die Sprachkultur eines anderen Landes annimmt und tief verinnerlicht. Interessant ist außerdem, wie anders man die Gesichter von Freunden wahrnimmt, die man für ein Jahr nicht gesehen hat. Jedes Gesicht ist mir natürlich noch sehr vertraut, aber gleichzeitig nimmt man es wieder so wahr wie bei der allerersten Begegnung. Auch nach der eingehenden Betrachtung durch meine Eltern müssen diese zugeben, dass ich ja schon irgendwie gereift bin – innerlich wie äußerlich.

 

Die Tage in der deutschen Heimat verfliegen und schon bin ich seit einer Woche wieder daheim. Ich erinnere mich an die Anfangszeit in Kanada, während der ich jeden Tag gezählt habe (besonders weil jeder fragte, seit wann genau ich denn schon in Kanada sei). Irgendwann hörte das Fragen dann auf und ab da wusste ich, dass ich jetzt nicht mehr offiziell „die Neue“ bin. Aus einem zu Beginn völlig fremden Tagesablauf wurde mein Tagesablauf, an den ich mich anpasste und den ich zu schätzen lernte. Aus neuen Arbeitsabläufen wurden feste Routinen. Und aus Bekanntschaften wurden in der L’Arche sehr schnell enge Freunde. Ein Land, von dem ich bei meiner Einreise nur eine sehr vage Vorstellung hatte, wurde für mich zu einer zweiten Heimat. Und ich muss zugeben, dass mein Herz noch sehr an der weiten Landschaft Kanadas hängt, die einem so sehr das Gefühl von unendlicher Freiheit vermittelt. Noch immer habe ich das Gefühl einfach ins Auto oder auch auf mein Fahrrad steigen und ans raue, kanadische Meer fahren zu können. Noch immer fühle ich mich stark mit meinen kanadischen Freunden verbunden (den sozialen Netzwerken sei Dank!). Oft rechne ich die Stunden zurück und überlege, was jetzt wohl grade so in Antigonish los ist und was alle so treiben. Frage mich, ob meine Abwesenheit groß auffällt, ob ich sehr vermisst werde. Besonders weil ich mit meinen Gedanken oft zurück zu meiner Zeit in Kanada schweife. Mein Abschied fiel mir wirklich nicht leicht, doch das ernst gemeinte Austauschen von „See you soon“ („Bis bald!“), begleitet von einer festen Umarmung, erleichterte mir das auf Wiedersehen sagen deutlich. Weil meine ganzen Erinnerungen an mein Jahr in Kanada zurzeit noch besonders frisch sind und ich das Gefühl habe, dass ich sie jetzt am besten nacherzählen kann, möchte ich hier einige meiner besten Momente mit euch teilen.

 

Ein Tag, an den ich mich bis heute am allerliebsten erinnere, ist Freitag der 12. November 2016. An diesem Tag sind wir deutsche St. Martins Lieder singend und mit selbst gebastelten Laternen ausgestattet durch die nächtlichen Straßen der kanadischen Kleinstadt Antigonish gezogen. Nach der ersten halben Stunde saß bei jedem das „Rabimmel rabammel rabumm“ und alle konnten zumindest diesen Teil des Liedes textsicher mitsingen. Natürlich durften auch die selbstgebackenen Martinsgänse nicht fehlen, die wir anschließend bei einem netten Beisammensein genossen. Es leben die deutschen Bräuche!

 

Mitten im tiefsten kanadischen Winter fand – ganz unerwartet - eine meiner schönsten Erlebnisse statt. In der Wildnis Cape Bretons brachen wir zu einer nächtlichen Schneeschuhwanderung auf. Nachdem wir uns eine gute Stunde durch den Wald und den tiefen Schnee gekämpft hatten, ließen wir uns mitten auf einer Waldlichtung in den weichen Schnee fallen und genossen den Blick in den klaren Sternenhimmel.

 

Ein großer Teil meines Kanadajahres war sicherlich auch das Reisen. Ob über Neujahr mit dem Zug nach Montreal, oder im April zur Stadt am See (Toronto) und zu den beeindruckenden Niagarafällen, der Urlaub war jedes Mal ein riesen Erlebnis und ich kam mit 5000 großartigen Bildern mehr auf meiner Kamera und einigen neuen Eindrücken nach Antigonish zurück. Ein Highlight war hier sicherlich auch die Reise bis ganz in den Westen Kanadas, nach Vancouver. Ach ja, Reisen erweitert halt doch den Horizont!

 

Diese und sehr viele weitere Momente zeichnen mein Kanadajahr aus und machen es für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis und einer bereichernden Erfahrung. Nicht jedes dieser Erlebnisse braucht jedoch eine große Geschichte. Die meisten meiner glücklichen Erinnerungen lassen sich eher mit einem kurzen Satz beschreiben oder rufen nur ein bestimmtes Gefühl in mir auf, dass mit einer Beschreibung nicht die komplette Tiefe wiederspiegeln kann. Wie beispielsweise die erste Umarmung, die Tommy mir aus Dankbarkeit aber auch als Aufmunterung gab, nachdem ich ihm das erste Mal alleine bei seiner täglichen Routine geholfen hatte. Das Mittagessen, das wir einmal thematisch zu Halloween im Dixie Haus kochten und bei dessen Vorbereitung wir über jede einzelne kreative Idee in Begeisterung und Tatendrang ausbrachen (und das Endergebnis konnte sich wahrlich sehen lassen, zumal es noch von unseren begeisterten Lobgesängen gepriesen wurde ;) ). Jedes einzelne Gemälde von Sachan, das er zusammengefaltet in seiner Hosentasche herumträgt, bis er es mir im richtigen Moment mit einer großen Geste und einem strahlendem Lächeln im Gesicht überreicht. Dank ihm habe ich eine ganze Sammelmappe an Gemälden! Das Aufeinanderstapeln von allen möglichen Dingen, die auf dem Esstisch nach unsererm Frühstück standen, damit Donny aus Angst der Turm könne zusammenbrechen die Gegenstände in die Küche transportiert und somit den Tisch für uns leerräumt. Die gemeinsamen Spieleabende, unsere Bowlingausflüge, die Tanz- und Kostümpartys, die Wasserschlachten, das Hausschuh klauen und verstecken,… So viele Erlebnisse, die mir noch jetzt ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern!

 

Mein Jahr im Ausland und besonders auch die Arbeit in L‘Arche haben mir gezeigt wie wichtig Gemeinschaft und ein gutes Zusammenleben mit einer anständigen Kommunikation ist. Dabei ist es vor allem entscheidend, keine Angst zu haben sich mit seinen Stärken und Schwächen zu präsentieren und diese auch offen auszuleben. Besonders das Zusammenleben mit Menschen mit Behinderung hat mir dafür einen angenehmen Rahmen geboten, da ich ganz selbstverständlich mit all meinen Macken und Kanten, die mich schmücken, akzeptiert wurde und mich für nichts rechtfertigen brauchte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man gibt, ebenso viel zurückbekommt - wenn nicht sogar mehr! Ich habe mich dieses Jahr etwas mehr lieben gelernt und dafür muss ich vor allem meinen Freunden mit Behinderung danken. Danke, dass ihr mir jeden Tag die Leichtigkeit und die kleinen Freuden des Lebens vorgelebt habt!!

 

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